Jannas Place



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Vielleicht sind Depressionen auch einfach nur gekauft ...


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Scheißegal

Er sah auf seinen Bestimmungszettel: "ERDE". Scheiße! Nicht schon wieder Erde! Sehnsüchtig blickte er zu den wesentlich kleineren Warteschlangen vor den Planeten Alderan, Ulthar, oder Mjork. Aber auf der Erde hatten sie derzeit eine Überbevölkerung von Menschen, und deswegen schickten sie mittlerweile fast jede Seele dorthin.

Shelka war eine Seele, die schon einen sehr hohen Bewußtseinsgrad erreicht hatte, und er hoffte, dass diese Inkarnation die letzte in die materielle Welt werden würde. Er hatte noch nicht auf die Karte mit seiner Lebensaufgabe gesehen. Aber jeder wußte, dass die letzte Aufgabe meistens auch die schwerste ist.

Er konnte sich an einige Seelen erinnern, die ihre letzte Aufgabe gelesen hatten und dann lächelnd verkündeten, dabei würden sie noch nicht einmal allzu alt werden müssen. Tatsächlich aber verbrachten sie dann mit ihrer letzten Aufgabe fast 96 Leben und mehr. Shelka hatte sich in die Warteschlange zur Erde eingereiht, aber es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis er seinen Inkarnationskörper zugeteilt bekäme. Er sah sich seine Karte genauer an.

Jede Karte hatte immer zwei Seiten, nur, dass man die zweite Seite erst lesen konnte, wenn man die erste Seite verstanden hatte - und das war meistens dann, wenn man die Aufgabe eh schon gelöst hatte. Shelka hatte auch schon mal davon gehört, dass irgendjemand Brillen verkaufte, mit denen man die zweite Seite schon vorher lesen könne, aber bis jetzt war er noch nicht an eine solche herankommen.

Auf der ersten Seite konnte er seine Aufgabe lesen: LASS DIR ALLES EGAL SEIN. Gott, was für eine Scheiße! 'Laß Dir alles egal sein!'. Er hatte immer gehofft, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen würde, aber jetzt hatte es ihn doch erwischt. Er hatte die Loser-Karte gezogen. Nein, schlimmer noch: Er hatte DIE Loser-Karte!

Shelka drehte sich entnervt um. Er überlegte, ob er auf dem Olymp noch einen Ambrosia-Cocktail trinken solle, da stand Jagal vor ihm. Jagal war in vielen Leben sein Freund oder Feind gewesen, und einmal waren sie sogar miteinander verheiratet gewesen. Diese Ehe war ein einziges Chaos geworden. Sie hatten sich geliebt, gestritten, geprügelt und wieder geliebt. Eigentlich war sie fast ein Abbild ihrer viellebigen Freundschaft.

"Wohin des Weges, mein Freund?" Diese Frage war in jedem Leben ihr Erkennungszeichen gewesen und hatte schon oft zu ausschweifenden Wiedersehenszeremonien geführt. "Jagal!" "Shelka!" Die Wiedersehensfreude der beiden Freunde war wie immer groß. "Komm, laß uns noch einen Ambrosia trinken!", forderte Shelka seinen Freund auf, aber dieser lenkte ein: "Geht nicht ..." und zeigte auf seinen Zettel mit dem Bestimmungsplaneten. Ein blauer Punkt deutete daraufhin, dass er sich auf direktem Wege dorthin zu begeben hatte.

"Hmm, kennst du schon deine Aufgabe?" fragte Shelka seinen Freund. "Naja,", antwortete Jagal und lächelte, "soweit ich weiß, hat mein zukünftiger Vater eine große Firma, und auf meiner Karte steht: LERNE ZU HERRSCHEN ..." Man konnte spüren, wie Jagal die kurze Pause genoß. Von solchen Inkarnationen gab es nicht allzu viele, und deshalb waren sie entsprechend begehrt. "Und du?"
Shelka hatte diese Frage befürchtet. "Ich? Naja, ich hab wohl meine letzte Aufgabe bekommen."
Jagal sah seinen Freund gespannt an "Und?" "Hmm naja, ... es steht drauf 'Laß Dir alles egal sein'."

Jagal musterte seinen Freund. Das war wirklich eine verdammt schwierige Aufgabe. Wenn er ihm nur irgendwie helfen könnte. "Kauf Dir auf jeden Fall eine Depression!", riet Jagal ihm eindringlich. "Eine Depression?! Kaufen!?!" Shelka traute seiner Wahrnehmung nicht. Er hatte Seelen, die sich eine Depression kauften, immer für fernab jeglicher Lichtform gehalten.

Ja, natürlich könnte er sich eine Depression kaufen. Er könnte sich auch irgendetwas anderes kaufen, aber bei so weitentwickelten Seelen, wie er es war, langten die mit ihren Preisen ganz schön zu. Und überhaupt: Eine Depression?!

"Na, was glaubst du, was alles passieren kann.", klärte Jagal ihn auf, "1503 hatte ich mal so eine ähnliche Aufgabe. Ich sollte das Wesen der Armut ergründen. Ob du's glaubst oder nicht, aber ich brauchte drei Leben dafür. Schließlich kaufte ich mir eine Melancholie und wurde Schriftsteller."

Shelka sah seinen Freund an. Naja, vielleicht hatte er ja doch recht. 'Laß Dir alles egal sein'. Wie sollte er sowas schaffen? Er hatte bis jetzt fast alles gelernt, aber am Ende einer jeden Aufgabe fühlte er immer ein tiefes Gefühl des Verständnisses und der Liebe. Und jetzt sollte ihm auf einmal alles egal sein?
Jagal hatte recht. Bevor er mehrere Leben an dieser Aufgabe herumprobierte, würde er sich lieber eine Depression kaufen.

Shelka winkte einen der Händler herbei. "Was nimmst du für eine Depression?" Der Händler begutachtete Shelka's strahlende Gestalt. "... hmm, gib mir deine Erinnerung an deine große Liebe dafür."
Shelka's Lichtgestalt zog sich zusammen. Minoh?! Seine Erinnerung an Minoh?! Wenn er in der materiellen Welt zu verzweifeln schien, genügte ein Gedanke an Minoh, und er konnte wieder aufstehen und seine Aufgabe beenden. Minoh war schon in der höheren Astralebene, und wenn er seine letzte Aufgabe hier erfüllt hatte, würden sie auf der neuen Ebene wieder vereint sein. Minoh! Ein Gedanke an Minoh und seine Welt bestand nur noch aus Ewigkeit und Glückseligkeit. Und jetzt sollte er sie für eine 'Depression' verhökern?!
"Oh, ihr müßt nicht bei mir kaufen ...!" lächelte der Händler siegessicher und machte Anstalten, sich mit einer dienerischen Geste zurückzuziehen. Er wußte, dass sein Kunde überall den gleichen Preis zahlen würde - und er wußte auch, dass sein Kunde kaufen würde. Eine Depression fragt man nicht so einfach an. Wer danach fragt, kauft auch.
Shelka sah, dass der Händler sich nicht mit weniger zufrieden geben würde. Und es machte ihn wütend. "Dann leg zumindest einen VS dazu." Ein VS war ein Vergessensschutz, der bewirkte, dass er durch die Inkarnation nicht sein ganzes vorhandenes Wissen vergaß. Er konnte sich erinnern, solch einen VS einmal für die Erinnerung an seinen besten Orgasmus erworben zu haben. Mit solchen Preisen kam er immer gut klar. Aber dieser Preis war fast, als würde er seine Seele verkaufen.

Shelka's Inkarnation war die perfekte Basis für seine Lebensaufgabe Lass-dir-alles-egal-sein. Seinem Vater war er so egal, dass er ihn nie kennenlernte und seiner Mutter war er irgendwas zwischen egal und nervig.

Aber da er durch seinen VS niemals seine Lebensaufgabe vergessen hatte, sah er über den Schmerz, den diese Menschen in ihm erzeugten, hinweg und versuchte, von ihnen zu lernen. Schließlich schienen sie schon eine ganze Menge über die Eigenschaft 'Egal' zu wissen. Er versuchte, seiner Mutter so egal wie möglich zu sein und war diesbezüglich unglaublich froh, dass er sich die Depression gekauft hatte. Manchmal hatte Jagal einfach gute Ideen, das mußte man ihm lassen.

Während seiner Studienzeit kiffte Shelka viel und gerne. Der Kiff schien irgendwie sein ganzes Hirn dichtzuschleimen und machte eine zeitlang einen Brei daraus, der ihn über diese ganze Scheiße lachen ließ.
Und manchmal lehnte er sich auch einfach nur zurück und genoß das Gefühl, in einem wohligen nichtssagenden Brei zu leben.

In seinem Wohnzimmer hing eine Nachbildung des 'Bleu' von Miró. Er mochte dieses Bild zwar, aber im Grunde genommen war es ihm auch wieder egal, ob es jetzt an der Wand hing oder nicht. Es löste nichts in ihm aus. Was aber in ihm etwas auslöste, war, wenn Besucher dieses Bild sahen und aussprachen "Oh, Du hast einen Miró?!". 'Miró' - das war der Klang, der in ihm etwas auslöste.
Manchmal, wenn er alleine zu Hause vor dem Bild saß, sprach er diesen Namen ganz langsam und leise vor sich hin. "Miroh". Irgendetwas störte ihn an diesem Namen, schien nicht ganz perfekt zu sein - und doch hatte er dann Tränen in den Augen. Tränen der Sehnsucht. Eine Sehnsucht nach etwas, das er nicht kannte. Und dann fing er an, diese Welt zu hassen, weil sie so langweilig für ihn war und weil sie ihm nichts mehr bieten konnte. Weil sie ihm einfach egal war. Scheißegal. Aber diese Sehnsucht schien ihn an einen anderen Ort zu ziehen. Und doch, selbst wenn diese Sehnsucht ihn völlig ausfüllte - er war in dieser Welt gefangen. Und deswegen haßte er sie.

Maria unterschied sich nicht sonderlich von all den anderen Frauen, die er vor ihr gehabt hatte. Sie hatte das, was man gemeinhin als 'gutes Aussehen' bezeichnete, war durchschnittlich intelligent und hatte die angenehme Eigenschaft, dann nicht anwesend zu sein, wenn er ihrer nicht bedurfte.
Frauen waren in seinem Leben in erster Linie dazu da, seine Langeweile zu vertreiben und ihn seine innere Leere vergessen zu lassen. Und Maria machte ihre Sache diesbezüglich recht gut. In ihrer Gegenwart lachte Shelka sehr viel. Maria hatte in gewisser Weise ein komisches Talent. In 'gewisser Weise' deshalb, weil sie sich dessen oftmals gar nicht bewußt war. Sie hatte etwas belustigendes für Shelka. Und das Lachen, was sie damit bei ihm auslöste, ließ ihn für einen Augenblick seine innere Leere und den Grund, weshalb er hier war, vergessen. Aber auch nur für diesen Augenblick. Es schwemmte ihn nicht weg, so wie er es mit Jagal oftmals erlebt hatte.
Sex mit Maria war einfach guter Sex. Er hatte zwar nicht den bizarren Kick, den er damals mit Janice hatte, aber Maria war sehr aufgeschlossen, und mit der richtigen Führung bediente sie ihn recht gut. Es war einfach guter Sex, den er mit der obligatorischen Zigarette danach abschloss.

Eines Abends, nachdem Maria schon eine ganze Flasche Dom Perignon getrunken hatte, sah sie mit ihrem entgleisenden Blick das Bild von Miró an. "Blöh von Mirro" lallte sie. Shelka stand an der Bar und beobachtete sie. "Der blöde Mirroo. Der blööde Mirrrorr. Der blööhde Spiiegel!" Und bei diesem Wortgebilde lachte sie laut auf und verschüttete dabei ihren Champagner.
Shelka sah sie an. "Ich möchte, dass Du bis morgen mittag aus der Wohnung verschwunden bist." sagte er, ohne irgendeine Gefühlsregung in seiner Stimme.
Dann nahm er seinen Mantel und ging hinaus in die winterliche Kälte.

Der Penner hatte ihm einen Stapel Zeitungen gegeben, auf die er sich setzen konnte. So saßen sie eine ganze Weile in der winterlichen Kälte nebeneinander an der Hauswand und reichten sich abwechselnd die Flasche Glenfiddich, die Shelka ein paar Ecken weiter gekauft hatte.
"Echt guter Stoff ..." sagte der Penner hin und wieder und manchmal antwortete Shelka dann darauf mit "Ja".

Er fühlte sich leer - und egal. Er fühlte sich sowas von egal, dass er sich fragte, warum er überhaupt noch hier war. Hatte er etwa seine Aufgabe immer noch nicht gelöst? "Minoh" sagte der Penner auf einmal. Er sagte es einfach so in die eisige Luft hinein. Shelka sah ihn an. "Was?" fragte er leise. Der Penner lachte leise sein rauhes veralktes Lachen - dann wurde er still.
Er lächelte und seine Augen blickten geradeaus. Starr geradeaus. Die Flasche Glenfiddich fiel ihm aus der Hand und der Whisky bahnte sich eine Spur durch den Schnee. Shelka griff schnell danach. 'Ist dir doch noch nicht alles egal', dachte er bei sich mit einem bitteren Lächeln. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und sah den Penner an. Dieses Lächeln in seinem Gesicht ... Was mußte mit diesem Menschen passiert sein, dass er solch ein Leben führen konnte? Was mußte es wohl für ein Gefühl sein, in der Einkaufspassage zu sitzen und von all den anderen verachtet zu werden? Und dennoch mit einem Lächeln auf den Lippen zu sterben ...

Shelka zog den Körper des Penners zu sich herüber und nahm ihn in den Arm. 'Es ist egal, was andere von einem denken', dachte er so bei sich, 'sie denken eh alle, was sie wollen. Nein, nicht ganz. Von Äußerlichkeiten lassen sie sich beeinflussen.'. Er zog seinen teuren Armani-Mantel aus und legte ihn dem Penner um die Schultern.
Und dann mußte er lachen. Lachen, lachen, lachen. Konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Und während er lachte, fiel er auf eine merkwürdige Weise mitten in diese Welt hinein. 'Das ist ja Wahnsinn', ging es ihm durch den Kopf, 'es ist alles egal. Total egal. Scheißegal ...' - und schloß die Augen.

Vor seinem inneren Auge drehte er seine Karte um und las 'LACHEN' ...


Geschrieben unter dem Namen "Shemena"